Der Mann der sich Albin Schmidt nannte

Von Frank Dörfelt

Am 17. Juni 1953, jenem Tag an dem sowjetische Panzer den Arbeiteraufstand in Berlin blutig niederwalzten, hatte der Zwickauer Hubert Blechschmidt andere Sorgen. Der 65 Jahre alte Mann war auf dem Weg zum Polizeipräsidium, um sich zu stellen. Er wollte die Sonnenstrahlen noch einmal genießen, denn er war sicher, dass er, sobald sich die Tür hinter ihm geschlossen hat nie wieder in Freiheit kommen würde. Zumindest wenn sein Plan aufging. „Ich habe meinen Nachbarn Albin Schmidt erschossen“, sagte er Kommissar Peter Lukas. Darüber hinaus, so erklärte Hubert Blechschmidt, werde er keine Aussagen machen. Er hatte sich vorher bei einem Anwalt erkundigt, welche Rechte er hatte. Das Angebot des Juristen ihn zur Polizei zu begleiten hatte er abgelehnt. Der Kommissar, der wenige Wochen später zum Oberleutnant der Deutschen Volkspolizei werden sollte, war froh über das Geständnis. Seit mehr als einer Woche ermittelte er in dem Tötungsdelikt, ohne bisher eine greifbare Spur vorweisen zu können. Jetzt konnte er den Fall abschließen. Daher fragte er auch nicht weiter nach, wie aus dem erhaltenen Protokoll hervorgeht. Hubert Blechschmidt wurde in Untersuchungshaft genommen. Drei Wochen später hatte die Polizei die Tatwaffe noch immer nicht gefunden. Auch war weder bekannt, dass der Mann, der sich selbst des Mordes bezichtigt hatte, die Tat nicht begangen hatte noch, dass das Opfer gar nicht Albin Schmidt hieß.

Die Enkeltochter plagen Gewissensbisse

Sabine Blechschmidt, die 19 Jahre alte Enkeltochter des Inhaftierten vermeintlichen Mörder, plagten heftige Gewissensbisse. Sie liebte ihren Großvater, der sie nach dem Krieg bei sich aufgenommen hatte, nachdem die Eltern im Konzentrationslager Theresienstadt ihr Leben verloren hatten. Sie drehte die Luger-Pistole, die der Opa aus dem Krieg mitgebracht hatte und seitdem auf dem Dachboden versteckt hielt gedankenverloren in den Händen. Sollte sie sich der Polizei stellen und denen erklären wer wirklich auf den Mann, der sich zuletzt Albin Schmidt nannte, geschossen hat? Der Großvater hatte sich nichts anmerken lassen, aber sie, seine Enkeltochter, hätten merken müssen, dass er längst wusste, dass sie zur Mörderin geworden war. Das er sich jetzt für sie opferte. Sabine Blechschmidt hatte versucht eine Besuchsgenehmigung zu erwirken, doch die war abgelehnt worden. Sie musste sich mit dem einzigen noch zur Verfügung stehenden Verwandtem ihrem Bruder besprechen. Er war zwar ein Halodri, der keiner Arbeit nachging und sein Geld mit windigen Schwarzmarktgeschäften verdiente, aber vielleicht konnte er ihr einen Rat geben. Das Gespräch endete ohne Ergebnis. Der Bruder wollte seiner Schwester nicht helfen. Nachdem er gegangen war, bemerkte die junge Frau, dass die Luger verschwunden war. Dann kam was kommen musste. Johannes Blechschmidt geriet wieder einmal in eine Razzia der Polizei. Diesmal jedoch sollte er nicht mit einem blauen Auge davonkommen. Bei ihm wurde die Luger-Pistole gefunden. Um seine eigene Haut zu retten, sagte er, dass die seiner Schwester gehöre. Als Sabine Blechschmidt dazu befragt wurde machte sie reinen Tisch. „Ich habe Albin Schmidt erschossen, mein Großvater ist unschuldig. Er will mich nur schützen“, sagte sie. Mit dieser Aussage übernahm Oberleutnant Lukas den Fall. Die junge Frau, die als Verkäuferin arbeitete und nicht viel verdiente, wollte sich etwas dazuverdienen. „Da kam mir das Angebot des neuen Nachbarn gerade recht“, sagte sie. Er habe ihr vorgeschlagen drei Mal in der Woche bei ihm zu putzen. Sie hatte das Angebot angenommen. Ein paar Wochen später fiel ihr beim Staubwischen ein kleines Holzkästchen herunter, aus dem sich Papiere über den Boden verteilten. Als sie die Briefe und Ausweise zurücklegen wollte vielen ihr die Hakenkreuze und das NSDAP-Parteisymbol auf. Die Fotos auf den Ausweisen konnte sie ohne Probleme als die von Albin Schmidt erkennen. Nur der Name Alfred Kästner hatte nicht dazu gepasst. An diesen Namen waren auch die Briefe adressiert. Sie legte alles zurück und erwähnte den Vorfall nicht. Der Großvater hatte nie viel vom Krieg und der Deportation seiner Frau und seiner Tochter und deren Mann gesprochen, auch nicht über die Person, die sie verraten hatte. „Aber sein Gesicht und seinen Namen und habe ich mir eingeprägt“, hatte er mehrfach gesagt. Als Sabine Blechschmidt ein paar Wochen später die Neugier plagte fragte sie, ob er wisse, wer Alfred Kästner sei. Der Großvater wurde blass. Mit zittriger Stimme sagte er nur: „Der ist am Tod Deiner Eltern und meiner Frau schuld“. Er habe sie als Juden denunziert, worauf sie abgeholt und später im KZ ermordet wurden. Die Enkeltochter verschwieg ihrem Großvater, dass der Mann ein Stockwerk unter ihnen wohnte. Bisher hatte es Schmidt – Kästner offenbar geschafft ihm aus dem Weg zu gehen. Doch dann wurde Schmidt oder Kästner gegenüber der jungen Frau zudringlich. Ihren Bitten sie nicht zu begrapschen, kam er nicht nach. Für das Geld, dass er ihr zahle könne er auch erwarten, dass sie in Unterwäsche oder noch besser ganz nackt putze, soll er gefordert haben. Schließlich reifte in ihr der Gedanke sich mit der Waffe des Großvaters, die sie beim Aufräumen der Bodenkammer gefunden hatte zu verteidigen. Bei ihrem nächsten Besuch steckte sie die Pistole ein. „Ich wollte ihn nicht erschießen“, sagte sie vor der Polizei aus. Sie wollte ihm damit nur drohen und ihn auf Abstand halten. Doch durch ihre Unerfahrenheit löste sich ein Schuss, der den Mann ins Herz traf. 

Die Mörderin steht vor Gericht

Am 2. Dezember 1953 musste sich Sabine Blechschmidt vor dem Zwickauer Landgericht verantworten. Einziger Gast auf den Zuschauerbänken war ihr Großvater. Die junge Frau fand milde Richter, die sie zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilten. Gegen den Willen des Staatsanwaltes wurde die Strafe zur Bewährung ausgesetzt. Das Gericht machte zwar deutlich, dass Tötungsdelikte in der neuen sozialistischen Ordnung nichts zu suchen hatten und daher hart bestraft werden müssten. Aber die Richter, darunter zwei Frauen, hatten auch erkannt, dass sich die Angeklagte in einer Notwehrsituation befand. „Sie hat sich gegen eine drohende Vergewaltigung zur Wehr gesetzt“, heißt es in der Urteilsbegründung. Dagegen sprach, dass sie die Waffe illegal mit sich führte. Zu ihren Gunsten wertete das Gericht, dass sie einen Kriegsverbrecher entlarvt hatte. Kästner war nachweislich für den Tod zahlreicher Menschen verantwortlich. Er war nach dem Krieg als gesuchter Kriegsverbrecher untergetaucht und hatte sich 1952 unter falschem Namen wieder in Zwickau niedergelassen. Die Angeklagte hätte den Mann zwar besser der Polizei übergeben sollen, statt ihn selbst zu richten, sagten die Richter. Aber immerhin sei die Stadt so von einem überzeugten Nazi befreit worden, was allerdings auch keinen Mord rechtfertige. Sabine Blechschmidt konnte das Gericht als freier Mensch an der Seite ihres Großvaters verlassen. Die junge Frau starb sieben Jahre später an den Folgen eines mysteriösen und bis heute nicht aufgeklärten Verkehrsunfalles. Sie hatte es sich nach der Gerichtsverhandlung zur Aufgabe gemacht nach den Spuren weiterer Nazis in der Stadt zu suchen. Unmittelbar nach dem Unfall wurde in die Wohnung des Großvaters eingebrochen. Die Aufzeichnungen seiner Enkelin sind seitdem verschwunden. Er war überzeugt, dass seine Enkeltochter von Nazis ermordet worden war. Das hatte er auch der Polizei berichtet. Hubert Blechschmidt starb 1967 nach einem Herzinfarkt. nkd

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